Vorgriffsregelung zum "Chancenaufenthaltsrecht" gefordert

Tübinger Organisationen und Beratungsstellen der Flüchtlingshilfe fordern von der Landesregierung, umgehend eine Vorgriffsregelung für das geplante "Chancenaufenthaltsrecht" zu erlassen. Hierzu wandten sie sich in einem Offenen Brief an den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und die Justizministerin Marion Gentges. Auch in anderen Landkreisen wurden solche offenen Briefe an die Landesregierung und Landtagsabgeordnete geschickt, wie etwa in Reutlingen, initiert von der dortigen Asylpfarrerin Ines Fischer.

Anfang Juli hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zum Chancenaufenthaltsrecht (§ 104c Aufenthaltsgesetz) beschlossen und damit ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition umgesetzt. Rund 135.000 Menschen, die sich in der Duldung befinden, könnten von diesem Gesetz profitieren, etwa 10 Prozent davon in Baden-Württemberg. Das Chancenaufenthaltsrecht bringt verschiedene Erleichterungen für das Bleiberecht von Menschen, die eine Duldung haben, aber in Arbeit und gut integriert sind. Es wird jedoch damit gerechnet, dass es noch bis mindestens Dezember dauern wird bis das Gesetz in Kraft tritt.

Mehrere Bundesländer, darunter Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz haben deswegen bereits sog. Vorgriffsregelungen erlassen, jedoch nicht das von den Grünen regierte Baden-Württemberg. Hierzu schreiben die Autor*innen des offenen Briefs: "Es kann nicht sein, dass diese Menschen in Baden-Württemberg weiter von der Aufenthaltsbeendigung bedroht sind oder gar Abschiebungen durchgeführt werden während andere Bundesländer längst das neue Gesetzesvorhaben berücksichtigen." Mehrere Beispiele von im Kreis Tübingen lebenden Personen werden dargestellt, die weiter akut von der Abschiebung bedroht sind, nach dem neuen Gesetz aber bereits eine Aufenthaltserlaubnis erhalten könnten.

Deswegen fordert das Bündnis bei allen Personen, die die Anforderungen des neuen Gesetzes erfüllen, sämtliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung einzustellen und vorübergehend sog. Ermessensduldungen zu erteilen. Entsprechende Anträge wollen die Beratungsstellen bereits jetzt stellen.

P.S. Zum "Chancen-Aufenthaltsrecht" ausführlich und kritisch: https://www.proasyl.de/news/faq-fragen-und-antworten-zum-chancen-aufenthaltsrecht/

 

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Der offene Brief im Wortlaut:

Offener Brief: Vorgriffsregelung für Chancenaufenthaltsrecht jetzt erlassen!

Tübingen, den 16.9.2022

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,
sehr geehrte Frau Justizministerin Gentges,

Anfang Juli hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zum Chancenaufenthaltsrecht (§ 104c AufenthG) beschlossen. Rund 135.000 Menschen, die sich in der Duldung befinden, könnten von diesem Gesetz profitieren, etwa 10 Prozent davon in Baden-Württemberg.
Kurz nach Veröffentlichung des Gesetzesentwurfs hat der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg an Sie appelliert, dem Beispiel anderer Bundesländer zu folgen und umgehend eine Vorgriffsregelung für dieses „Chancenaufenthaltsrecht“ zu erlassen. Doch bisher hat dieses Anliegen bei Ihnen kein Gehör bekommen.

Deswegen möchten auch wir dringend an Sie appellieren und fordern Sie auf,
    • umgehend eine Vorgriffsregelung für das „Chancenaufenthaltsrecht“ zu erlassen
    • bei allen Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Voraussetzungen des Chancenaufenthaltsrechts erfüllen, eine „Rückpriorisierung“ durchzuführen und sämtliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung einzustellen
    • diesen Menschen übergangsweise bis zum Inkrafttreten des Gesetzes eine Ermessensduldung nach § 60a Abs.2 S.3 zu erteilen
    • sich beim Gesetzgeber dafür einzusetzen, dass der Stichtag 1.1.2017 aufgehoben und in „5 Jahre Aufenthalt“ geändert wird.

Wir halten dies für sehr wichtig, denn: Die meisten unter dem früheren Bundes-Innenminister Seehofer beschlossenen Gesetze im Flüchtlingsbereich der letzten Jahre brachten Verschärfungen und diese gelten immer noch. Im Gegensatz dazu nahm sich die neue Bundesregierung auch einige Verbesserungen vor, die jetzt mit dem „Chancen-Aufenthaltsrecht“ eingeführt werden sollen. Eine dieser Chancen besteht darin, dass Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die eine Duldung haben, aber in Arbeit und gut integriert sind, bereits nach 5 Jahren Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können. Nach einem Jahr können diese Menschen eine reguläre Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufentG erhalten, wenn sie weiter in Arbeit sind und ihre „Mitwirkungspflichten“ bei der Identitätsklärung und Passbeschaffung erfüllen.

Weitere Verbesserungen im Rahmen dieses Gesetzespakets sind die Reduzierung der Voraufenthaltszeiten für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a und § 25b Aufenthaltsgesetz. So können Jugendliche bis 27 Jahren in Zukunft nach bereits 3 (bisher 4) Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG erhalten und alleinstehende Erwachsene können nach 6 Jahren (bisher 8) und bei Familien bereits nach 4 Jahren (bisher 6) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erhalten.
Diese Verbesserungen müssen jetzt so schnell wie möglich in der Praxis angewendet werden.
Wir beraten und unterstützen viele Menschen, die die Voraussetzungen für diese neuen Regelungen erfüllen, die aber weiter als „vollziehbar ausreisepflichtig“ gelten. Es kann nicht sein, dass diese Menschen in Baden-Württemberg weiter von der Aufenthaltsbeendigung bedroht sind oder gar Abschiebungen durchgeführt werden während andere Bundesländer längst das neue Gesetzesvorhaben berücksichtigen.

    • Beispiel 1: Herr D. aus Gambia arbeitet seit vier Jahren in Vollzeit in einem Metallbaubetrieb. Die Beschäftigungsduldung hat er nicht bekommen, weil er noch keine 12 Monate eine Duldung hat und weil er noch keinen Pass bekommen hat. Das Chancen-Aufenthaltsrecht könnte er aber erhalten.
    • Beispiel 2: Der 27-jährige Jeside A. könnte nach den Regelungen des § 104c AufenthG bereits jetzt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG haben stattdessen verbleibt er in der Duldung. Siehe 14.9.2022 Kontext Wochenzeitung: Jesidinnen: Zwischen Trauma und Traum
    • Beispiel 3: Der Nigerianer M., der seit vier Jahren harte Jobs annimmt, die nur noch von Migranten übernommen werden, erhielt noch vor Kurzem vom Regierungspräsidium attestiert, dass er nicht alle Voraussetzungen für die Beschäftigungsduldung erfülle und die Aufenthaltsbeendigung betrieben werde. Wenn es eine Vorgriffsregelung geben würde, könnte er den 104c bekommen.

In unserer Beratungspraxis werden wir ab sofort entsprechende Anträge stellen, mit denen wir eine „Rückpriorisierung“ und vorläufige Erteilung einer Ermessensduldung beantragen.

Auf eine Antwort auf unseren Brief („Politik des Gehörtwerdens“) freuen wir uns.

Mit freundlichen Grüßen

move on – menschen.rechte Tübingen e.V., Beratungsstelle Plan. B,  Andreas Linder, Matthias Schuh

Asylzentrum Tübingen e.V., Vorstand / Beate Kolb

Arbeitskreis Asyl Südstadt Tübingen, Angela Baer, Bernward Hecke

Diakonisches Werk Tübingen, Jugendmigrationsdienst,   Uwe Gieseler und Annika Schweizer

KIT Jugendhilfe Tübingen, Projekt K.I.O.S.K., Matthias Hamberger

Seebrücke Tübingen,

Vernetzung der Unterstützerkreise für Geflüchtete im Landkreis Tübingen, Pf. Martin Kreuser, Anita Krämer, Wolfgang Bleicher


Verteiler / weitere Emfänger*innen:
Daniel Lede Abal, MdL
Dorothea Kliche-Behnke, MdL
Fraktionen des Landtags BW
Flüchtlingsrat BW, LIGA BW
lokale Medien

 


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