Menschenrechte sind "not for sale"

Pressemitteilung 18.7.2024: In einer gemeinsamen Erklärung fordern zivilgesellschaftliche Organisationen eine Fortsetzung und Weiterfinanzierung des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan (BAP). Der daran beteiligte Tübinger Verein move on wandte sich dazu mit der Bitte um Unterstützung an den SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Rosemann. Der Tübinger Verein move on – menschen.rechte Tübingen e.V. kritisiert das Vorhaben der Bundesregierung, das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan vorzeitig zu beenden, indem die finanziellen Mittel für das Programm im Bundeshaushalt 2025 gestrichen werden sollen.

In der gestrigen Bundespressekonferenz stellte die Bundesregierung den geplanten Bundeshaushalt für das Jahr 2025 vor. Neben massiven Streichungen bei der Entwicklungshilfe, bei Sozialleistungen oder den Integrationskursen beabsichtigt die Ampelregierung auch eine vorzeitige Beendigung des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan. Der Verein move on, der eine von bundesweit 70 Meldestellen im BAP ist, ist entsetzt über dieses Vorhaben. "Es darf nicht geschehen, dass ein so wichtiges Menschenrechtsprogramm auf dem Altar der Migrationsdebatte, des Rechtsrucks und der "Zeitenwende" geopfert wird", sagt Andreas Linder, Geschäftsführer des Vereins und aktiv im Afghanistan-Hilfsprojekt „save our families“.

In einem offenen Brief schrieb der Verein an den Tübinger SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Rosemann: „Wir möchten Sie dringend auffordern, in Ihrer Partei umgehend darauf hinzuwirken, dass das Bundesaufnahmeprogramm wie im Koalitionsvertrag versprochen, mindestens bis zum Ende der Legislaturperiode weiterfinanziert und politisch durchgeführt und verteidigt wird.“

Der Verein arbeitet an etwa 250 Anträgen in diesem Programm. Etwa die Hälfte der eingebrachten Anträge, darunter für viele von den Taliban bedrohte Frauen, sind angenommen worden, doch von diesen gefährdeten Menschen ist noch niemand tatsächlich in Deutschland angekommen. „Wir können sagen, dass jeder einzelne Antrag, der in diesem Programm bewilligt wird, zur Rettung von Menschen führt, die sich in verschiedener Weise und häufig in intensiver Zusammenarbeit mit deutschen und westlichen Organisationen für Frieden, Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie eingesetzt haben. Das darf nicht vorzeitig über Bord geworfen werden“, sagt Andreas Linder. Doch offenbar plant die Regierung unter dem Druck der Opposition bis ganz rechts, das Programm noch vor Ende der Legislaturperiode durch Geldentzug ins Leere laufen zu lassen. „Dies hätte fatale Folgen für mehrere tausend Menschen, die in dem Programm bereits ausgewählt wurden, darunter viele Frauen. Diese sind im islamistischen Talibanstaat nicht nur jeglicher Rechte beraubt, sondern können aufgrund ihrer früheren Tätigkeiten oder ihrer oppositionellen Haltung zum Regime nur noch versteckt und ausgeschlossen von allem öffentlichen Leben dahinvegetieren. Es darf nicht geschehen, dass diese Menschen im Stich gelassen werden“ sagt Anna Mayer, Mitglied des Vorstands und aktiv bei der „Seebrücke“. Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat sich die Menschenrechtslage in Afghanistan ständig verschlechtert. Dies dokumentiere sich auch an den Inhalten der immer noch zahlreich neu eingehenden Aufnahmeanfragen.

Fazit: Die Menschenrechte werden auch in Afghanistan verteidigt – oder zu Grabe getragen.

Hintergrundinformationen:

Mit dem Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan wurde im Oktober 2022 nach der Machtübernahme durch die Taliban ein legaler Fluchtweg für besonders gefährdete Afghan:innen geschaffen. Zu den Zielgruppen des Programms gehören Personen, die aufgrund ihres Einsatzes für Frauen-/Menschenrechte, ihrer Tätigkeit in Politik, Medien, Kultur oder aufgrund ihrer besonderen Verletzlichkeit aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung besonders gefährdet sind. Laut Aufnahmeanordnung sollen monatlich bis zu 1000 gefährdete Personen und ihre Angehörigen eine Aufnahmezusage erhalten.

Aktuelle Zahlen im BAP:  Bisher wurden aus Afghanistan in allen Aufnahmeprogrammen (Ortskräfteverfahren, Menschenrechtsliste, BAP) Aufnahmezusagen für rund 45.000 Personen gemacht, ca. 33.600 Personen sind eingereist. Im BAP gab es bisher (Stand Juni 2024) Aufnahmezusagen für lediglich 830 Hauptpersonen (2.786 Personen), real eingereist sind bisher nur 533 Personen. Laut der Antwort auf eine kleine Anfrage von MdB Clara Bünger (Linke) wurden seit April 2024 im Rahmen des BAP Aufnahmezusagen für 1.348 Personen erteilt.

Anträge im BAP von move on: Der Verein arbeitet an 280 Anfragen/Anträgen. Von den 68 bei der Regierung final eingebrachten Anträgen wurden bisher 36 angenommen, was eine gute Quote ist. In davon erst 16 Fällen gibt es finale Aufnahmezusagen. 6 Familien konnten Afghanistan verlassen und befinden sich im Visumverfahren an der Deutschen Botschaft in Islamabad. Noch niemand von den Ausgewählten ist in Deutschland angekommen.

Flyer mit ausführlichen Informationen zum Projekt save our families (PDF)

Der Verein sucht Menschen, die bei der intensiven Arbeit an den BAP-Anträgen ehrenamtlich mithelfen können: Flyer Gesucht: Aktivität für Menschenrechte (PDF)

Der Verein unterstützt die Menschen, die aufgenommen werden, bei allen Schritten der Integration und sucht vor allem Wohnungen: Flyer Gesucht: Sicherer Hafen (PDF)

Der Verein unterstützt Personen / Familien mit Aufnahmezusage bei den hohen Kosten für die Ausreise aus Afghanistan (Pässe, Visa etc.): Flyer: Bitte um Spenden oder Darlehen (PDF)

Mehr Informationen: https://menschen-rechte-tue.org

 

 

17.07.2024:

Gemeinsames Statement von Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter Meldestellen im Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan, zu den Kürzungsplänen der Regierung.

 

Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan muss wie angekündigt weitergeführt und weiterfinanziert werden!

Kein Ausverkauf von aktiver Menschenrechtspolitik!

Das Fortbestehen des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan (BAP) steht auf der Kippe. Laut Kabinettsentwurf der Bundesregierung, der verschiedenen Organisationen vorliegt und der in einer Pressekonferenz am 17.07.2024 offiziell vorgestellt wird, soll der unter anderem für das BAP vorgesehene Etat des Bundesinnenministeriums (BMI) für das Jahr 2025 auf rund 13% des Budgets von 2024 gekürzt werden. Das würde de facto das Ende des BAP bedeuten. Dies wäre fatal und ein voreiliges Ende eines elementaren Menschenrechtsprogramms. Besonders befremdlich ist, dass der Haushaltsentwurf vorsieht, den Haushalt des BMI um 400 Millionen Euro zu erhöhen, gleichzeitig aber essentielle Mittel für humanitäre Aufnahmeprogramme zu streichen. Mit den Streichungen würden nicht nur die ressortübergreifenden Abstimmungen missachtet, sondern auch explizit im Koalitionsvertrag festgelegte Zusagen untergraben.

Die unterzeichnenden Organisationen appellieren daher an die Bundesregierung, die Mitglieder des Bundestags und insbesondere an die Haushaltspolitiker*innen:

1. Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan muss wie geplant weitergeführt und mindestens bis Ende der Legislaturperiode vollumfänglich weiterfinanziert werden. Es muss mit dem politischen Willen ausgestattet werden, den es braucht, um die humanitäre Aufnahme gefährdeter Afghan*innen im Umfang der Aufnahmeanordnung in dieser Legislaturperiode zu ermöglichen.

2. Die Bundesregierung muss das von ihr selbst gesteckte Ziel der Aufnahme von bis zu 1.000 gefährdeten Personen im Monat - also insgesamt bis zu 36.000 Personen - weiter verfolgen und umsetzen. Dazu muss das Verfahren nicht eingestellt, sondern in allen seinen Phasen beschleunigt werden.

Insbesondere die Zustände in Islamabad, Pakistan, würden sich durch die Kürzungen dramatisch verschlimmern. Aktuell harren dort über 3.700 Personen aus, die sich bereits im Aufnahmeverfahren befinden. Weitere ca. 15.000 Personen hat die Bundesregierung bereits ausgewählt und kontaktiert, viele warten seit Monaten auf Rückmeldung. Sollten die Finanzierungen ausbleiben, würden die Menschen in Pakistan und Afghanistan ihrem Schicksal überlassen. Ihnen drohen weitere schwere Menschenrechtsverletzungen wie Verfolgung, physische und psychische Gewalt, Folter und im Fall von Pakistan auch Abschiebungen. Für besonders betroffene Personengruppen wie LGBTIQ-Personen sowie Frauen und Mädchen bedeutet dies eine direkte Existenzbedrohung. Massive Verzögerungen an der deutschen Auslandsvertretung in Islamabad werden zudem in vielen Fällen dazu führen, dass Menschen, die bereits eine Aufnahmezusage haben (Stand Juli 2024: 2.150 Personen mit Aufnahmezusage), mithilfe dieser nicht mehr ins Bundesgebiet reisen können.

Alphabetische Liste der erstunterzeichnenden Organisationen (Stand: 17.07.2024):

Afghanistan-Schulen Verein zur Unterstützung von Schulen in Afghanistan e.V.
Amnesty International Deutschland e.V.
Association of Prosecuting Attorneys, Inc.
AWO Bundesverband e.V.
BAfF e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL e.V.
Kabul Luftbrücke
LSVD+ - Verband Queere Vielfalt e. V. (zuvor Lesben- und Schwulenverband LSVD)
medico international
move on - menschen.rechte Tübingen e.V.
Reporter ohne Grenzen Deutschland
Stitching for School and Life e.V. ( SSL e.V )
TERRE DES FEMMES Menschenrechte für die Frau e.V.
terre des hommes Deutschland e.V.

Die Erklärung kann noch über diesen Link von Organisationen unterzeichnet werden:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSfHlKakxLUDw9F9wLskV2pnOibWcZkEJHGNLMBKBlPUu1BtKw/viewform

 

Medienberichte & Informationen:

17.07.2024: Redaktionsnetzwerk Deutschland: Hilfsorganisationen schlagen Alarm. Aufnahmeprogramm Afghanistan wegen Einsparplänen auf der Kippe

17.07.2024, Taz: Haushaltsentwurf: Afghanistan-Aufnahme wackelt. Menschenrechtsorganisationen warnen vor den Kürzungen im Haushaltsentwurf. Die Aufnahme gefährdeter Af­gha­n*in­nen wird dadurch erschwert.

17.07.2024 Tagesschau: Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan. Faeser will Finanzierung um fast 90 Prozent kürzen , siehe auch Kabinett bringt Bundeshaushalt auf den Weg

17.07.2024 Bundesministerium der Finanzen: Regierungsentwurf 2025 & Finanzplan bis 2028

07.07.2024 NDR / Panorama: Rettung von Afghanen: Wieder ein gebrochenes Versprechen. Der Filmbericht des investigativen Magazins kritisiert die Praktiken bei den Sicherheitsinterviews an der Deutschen Botschaft in Islamabad, die bereits in mehreren Fällen vermutlich zu Unrecht zum Entzug von Aufnahmezusagen geführt haben (allerdings nicht im BAP), mit fatalen Auswirkungen für die Betroffenen. Ebenso kritisiert wird, dass im BAP bisher nur 2 % der versprochenen Aufnahmen eingelöst worden seien.

04.07.2024 tagesschau.de: Gefährdeten Afghanen werden Aufnahmezusagen entzogen, siehe auch 25.04.2024 Frankfurter Rundschau: Stockende Rettung aus Afghanistan

11.07.2024, taz: Hauptsache, der Afghane ist schuld. Anlässlich von 75 Jahren NATO kritisiert der Autor Emran Feroz das Versagen des Westens bezüglich Afghanistan und dass der planlose Abzug im Jahr 2021 auch als Auslöser für den Ukrainekrieg gewertet werden kann. Das BAP sei ein Reinfall und habe nur "zahlreiche Hürden deutscher Bürokratie" zu bieten. Pessimistisch machen ihn der Rückzug der GIZ aus Afghanistan und aufkommender anti-afghanischer Rassismus vor dem Hintergrund der Migrationsdebatte in Deutschland.

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