save our families – Afghanische Geflüchtete fordern Schutz und Aufnahme für ihre Angehörigen in Afghanistan

10.9.2021 Pressemitteilung und flüchtlingspolitische Forderungen

„Haben Sie etwas vom Auswärtigen Amt gehört? Kann man Hoffnung haben? Oder was passiert jetzt? Ich habe Angst.“
(Der afghanische Flüchtling A., dessen Schwester Journalistin ist und die nach der Machtübernahme der Taliban ihre sämlichen Arbeitsmaterialien verbrennen musste und mit ihrer ganzen Familie aus ihrer Stadt geflüchtet ist)

Unter dem Motto „save our families“ demonstrieren afghanische Geflüchtete aus Tübingen und der Region am Samstag den 11. September am Tübinger Holzmarkt. Mit einer Mahnwache wollen die Geflüchteten darauf hinweisen, dass sich ihre in Afghanistan lebenden Angehörigen nach der Machtübernahme durch die Taleban am 15. August in großer Gefahr befinden und Hilfe brauchen. Die Mahnwache beginnt um 13.30 Uhr. Im Anschluss beginnt die Mahnaktion und Kundgebung der Gesellschaft Kultur des Friedens "20 Jahre Krieg in Afghanistan - was sind die Konsequenzen?"

In Tübingen und der Region lebende afghanische Geflüchtete haben in den vergangenen Wochen mit Unterstützung der Beratungsstelle Plan.B und des Asylzentrums in knapp 100 Fällen Anträge zur Evakuierung und humanitären Aufnahme von Angehörigen gestellt und in Zusammenarbeit insbesondere mit den Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel und Martin Rosemann an das Auswärtige Amt weitergeleitet. Alle diese Familienangehörigen haben im Laufe der letzten 20 Jahre direkt oder indirekt mit der Bundeswehr oder anderen  westlichen Truppen, mit deutschen oder internationalen Organisationen zusammengearbeitet. Alle diese Menschen fürchten nun die Rache der Taliban. Ihr  Leben ist in ernsthafter Gefahr. Viele sind Angehörige ethnischer Minderheiten wie der Hazara, auf die Taliban und IS in den vergangenen Jahren viele Anschläge mit unzähligen Opfern verübt haben. Unter den betroffenen Angehörigen sind auch viele junge Frauen, bei denen nun die Gefahr besteht, dass sie von Taliban verschleppt und zwangsverheiratet werden.

Die militärischen Evakuierungsflüge waren chaotisch, gefährtlich und haben viel zu spät begonnen. Nach dem Ende dieser Flüge am 27. August wurden Tausende Schutzbedürftige zurückgelassen. Das Auswärtige Amt gab bekannt, dass sich Deutschland ab diesem Zeitpunkt nur noch für Personen einsetzen würde, die deutsche Staatsbürger*innen sind oder die als ehemalige sog. Ortskräfte oder als besonders schutzbedürftig klassifizierte Afghan*innen bereits vor dem Stichtag 27. August eine Aufnahmezusage hatten. Das bedeutet, dass tausende weitere Schutzbedürftige im Stich gelassen und dem Terrorregime der Taliban ausgesetzt werden. Bisher gab es  zu keinem einzigen der Tübinger Anträge eine Reaktion des Auswärtigen Amts.

Die mitaufrufenden Tübinger Organisationen schließen sich den Forderungen von Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL und den Kirchen an, dass die Evakuierungen – auch aus benachbarten Drittstaaten - fortgesetzt werden und dass Aufnahmeprogramme aufgesetzt werden, mit denen gefährdete und schutzbedürftige Familienangehörige eine Chance bekommen.

Am 11. September ist der 20. Jahrestag des verheerenden Terroranschlags in New York. Unmittelbar danach begannen die USA und die NATO den „war on terror“ in Afghanistan. Mit diesem Krieg sollten die islamistischen Taliban, die wenige Jahre zuvor von den USA hochgerüstet wurden, bekämpft werden. Das Ende des 20-jährigen Stellvertreterkriegs ist für die westliche Politik ein militärisches, politisches und moralisches Desaster. Dieser Krieg hat nicht nur Millionen von Flüchtlingen, hunderttausende zivile Opfer und eine katastrophale humanitäre Situation in Afghanistan verursacht, sondern statt zur Überwindung zum Erstarken der islamistischen Taliban geführt. Die Zusammensetzung der jetzt von den Taliban eingesetzten Regierung – ausschließlich aus religiösen Hardlinern und Anführern von Terrormilizen bestehend - dürfte ein erstes Anzeichen sein, dass der islamistische Terror in Afghanistan jetzt erst richtig beginnen wird.

Siehe auch: PRO ASYL 9.9.2021: Regierung muss Hilferufe aus Afghanistan ernst nehmen – Breites Bündnis für Aufnahmeprogramme

 


move on – menschen.rechte Tübingen e.V.
Bündnis Bleiberecht Tübingen


Flüchtlingspolitische Forderungen nach dem Afghanistan-Desaster

1. Die „Weltgemeinschaft“ muss dafür sorgen, dass die Grenzen von Afghanistan in die Nachbarstaaten geöffnet werden und sichere und legale Fluchtwege für gefährdete und schutzbedürftige Afghan*innen geschaffen werden. Die Europäische Union muss an den EU-Grenzen die Abwehr- und Abschottungspolitik gegenüber afghanischen Flüchtlingen beenden und einen Zugang zum Recht auf Asyl zulassen.

2. Die Evakuierungen aus Afghanistan müssen fortgesetzt werden. Wir fordern, dass noch viel mehr Menschen aus Afghanistan herausgeholt und in Sicherheit gebracht werden - entweder in die Nachbarstaaten sein, wenn dort für vernünftige und menschenwürdige Aufnahmebedingungen gesorgt wird, oder weltweit über Resettlementprogramme des UNHCR oder internationale und nationale Aufnahmeprogramme. Hierbei darf es keine zwei Klassen von Schutzbedürftigen geben. Wir wollen, dass auch solche Menschen eine Chance erhalten, die keinen Arbeitsvertrag von der Bundeswehr hatten.

3. Wir fordern, dass die baden-württembergischen Landesregierung ein eigenständiges Aufnahmeprogramm für afghanische Flüchtlinge aufsetzt. Für Ortskräfte und für andere Schutzbedürftige. Hier sind vor allem die Grünen als Regierungspartei gefordert.

4. Wir fordern, dass die zahllosen falschen Asylentscheidungen der letzten Jahre korrigiert werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in den letzten Jahren stets abgestritten, dass in Afghanistan eine Kriegssituation herrscht und hat Tausende von Asylanträgen afghanischer Geflüchteter abgelehnt statt ihnen einen Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz zu erteilen. Diese Menschen müssen jetzt mit einem unsicheren Status in Deutschland leben und sind von der Abschiebung bedroht. Stets wurde in diesen Entscheidungen behauptet, dass es sichere Gebiete in Afghanistan gebe. Trotz unzähliger glaubwürdiger Berichte über die zigtausend zivilen Opfer dieses sogenannten Bürgerkriegs erhielten viele, auch von den Verwaltungsgerichten, nur ein „Abschiebungsverbot“ wegen der katastrophalen humanitären Situation im Land. Die Geflüchteten aus Afghanistan, die in Deutschland leben, brauchen einen sicheren Schutzstatus.

5. Wir fordern eine Erleichterung des Familiennachzugs. Die Asylpolitik der vergangenen Jahre hat vielen afghanischen Geflüchteten auch das Recht auf Familiennachzug verwehrt. Viele afghanische Geflüchtete hätten ihre Angehörigen längst in Sicherheit bringen können, wenn sie nicht immer noch auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag warten müssten oder wenn sie einen angemessenen Schutzstatus erhalten hätten.

6. Wir fordern, dass Abschiebungen nach Afghanistan dauerhaft unterlassen werden. Es ist eine Schande, dass Herr Seehofer noch zu einem Zeitpunkt nach Afghanistan abschieben wollte als die Taliban bereits vor Kabul standen, und dass bei diesem Abschiebeflug auch wieder Menschen aus dem grün-schwarz regierten Abschiebemusterländle Baden-Württemberg auf der Liste standen. Wir sagen NEIN zu Abschiebungen, insbesondere wenn es um Länder geht, in denen weder Sicherheit noch humanitäre Lebensbedingungen vorzufinden sind und unsere Politik für diese Situation mitverantwortlich ist.

Siehe auch:
- Flüchtlingsrat Baden-Württemberg: Petition "Solidarität mit Afghan*innen: Humanitäre Aufnahme und sichere Bleibeperspektiven jetzt!"
- PRO ASYL: Petition „Afghanistan – weitere Aufnahme JETZT“

Redebeitrag von Andreas Linder (move on - menschen.rechte Tübingen e.V.) bei der Kundgebung "20 Jahre Afghanistan - was sind die Folgen?" (PDF)

13.9.2021 Schwäbisches Tagblatt: Forderung nach Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan (PDF)

 

Angehörige von etwa 20 afghanischen Familien demonstrierten unter dem Motto "save our families"

save our families

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