Landesdatenschutzbeauftragter verbietet "Liste der Auffälligen"

Mit einem Bescheid vom 5.10.2020 untersagte Dr. Stefan Brink, der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, der Stadt Tübingen das Führen einer Liste von "auffälligen" Geflüchteten. Mit dieser erstmals an eine Kommune ergangenen derartigen Verfügung beendete der Datenschutzbeauftragte einen sich fast zwei Jahre hinziehenden Streit um die von Oberbürgermeister Boris Palmer und der Stadtverwaltung geführten sog. "strukturierten Informationsaustausch". Begründung: Keine Rechtsgrundlage, keine Belege für tatsächliche Gefahrenlage, Diskriminierung der Betroffenen.

OB Palmer rechtfertigte diese Liste zu Beginn mit seiner Auffassung, dass straffällig gewordene oder aus seiner Sicht verdächtige Personen in Landesunterkünfte verlegt werden sollten. Zusätzlich oder alternativ wurde das Vorhaben verkündet, als "auffällig" angesehene Personen in die städtische Anschlussunterkunft in der Europastraße 37 zu verlegen. Dort wurde bereits seit 2017 ein Sicherheitsdienst mit jährlichen Kosten von rund 300.000 Euro eingesetzt. Erst einige Zeit später brachte Palmer als weiteren Rechtfertigungsgrund für die Liste den Schutz von städtischen Mitarbeiter*innen ins Spiel.

Bereits unmittelbar nachdem das Vorhaben, eine solche Liste zu führen, öffentlich wurde, zweifelten die Flüchtlingshilfen Kreis Tübingen (Netzwerk ehrenamtlicher Flüchtlingsunterstützerkreise) in einer Presseerklärung die Rechtmäßigkeit der Liste an und forderten anhand eines umfangreichen Fragenkatalogs Aufklärung über Einzelheiten dieser Praxis. Gegen "Palmers Liste" und die geplante Praxis der Errichtung einer lokalen "Brennpunkt- und Abschiebeunterkunft" machte das aus Bündnis Bleiberecht, Flüchtlingshilfen, Asylzentrum und anderen Initiativen bestehende "Netzwerk Europastraße" in einer Informationsveranstaltung am 5.4.2019 mobil. Am 9.4. lud OB Palmer zu einer Aussprache ins Rathaus. Diese geriet zu einer Palmerschen Selbstdarstellungsshow, bei der in der üblichen selbstherrlichen Art die Argumente des Netzwerks vom Tisch gewischt wurden und keine der gestellten Fragen zufriedenstellend beantwortet wurde. Mehrere Fraktionen des Gemeinderats griffen den Fragenkatalog auf und erhielten zum Teil aufklärende, zum Teil ausweichende Antworten.

Und auch dem zwischenzeitlich in Kenntnis gesetzten Datenschutzbeauftragten des Landes antwortete die Stadtverwaltung auf die gestellten Fragen nur verzögert oder gar nicht und beschwerte sich stattdessen in einem mit Horrorbeispielen von Flüchtlingskriminalität gefüllten Brief bei Innenminister Strobl über den Datenschutzbeauftragten. Ende Januar erhob dann der Datenschutzbeauftragte erstmals öffentlich Kritik an der Stadtverwaltung Tübingen, nachdem die "Liste" und die Nichtkooperation der Stadt auch Eingang in den Datenschutz-Tätigkeitsbericht 2019 gefunden hatte.

Jetzt beendete der Datenschutzbeauftragte den Streit und zwar mit einem eigentlich unmissverständlichen Urteil für OB Palmer:
- Für die Weiterleitung von Daten von der Polizei über die Ausländerbehörde an andere Dienststellen der Stadtverwaltung bestehe keine Rechtsgrundlage.
- Die Aufnahme von personenbezogenen Daten in die Liste sei erfolgt, ohne dass die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht die Tat oder den Tatvorwurf in einem rechtsstaatlichen Verfahren bestätigt hätten.
- Eine Gefährderliste aufgrund eines bloßen Verdachts aufzustellen verletze die Rechte der Betroffenen.
- Die Stadt habe letztlich weder im Einzelfall noch allgemein darlegen können, dass eine konkrete Gefahr für das eigene Personal bestanden habe.
Der Datenschutzbeauftragte monierte die "Blockadehaltung" von Palmer und Stadtverwaltung und verwies auf die "gravierende Diskriminierungswirkung" der Liste.

Gegenüber der Presse teilte OB Palmer mit, nicht gegen die Verfügung des Datenschutzbeauftragten klagen zu wollen. Er machte jedoch keinen Hehl daraus, dass er kein Verständnis für diese Entscheidung hat und bezeichnete diese als "behördlich verordnete Schizophrenie". Palmer kündigte eine Gesetzesinitiative auf Bundesebene an, durch die eine Rechtsgrundlage für die Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden und Sozialarbeit geschaffen werden solle. Auf Facebook informierte Palmer seine Fans unter der Überschrift "@Datenschutz als Täterschutz" über die "rechtlich und sachlich falsche Entscheidung" und heizte gleich wieder die flüchtlingsfeindliche und rassistische Stimmungsmache an, indem er das Bild vom dunkelhäutigen Messerstecher zeichnete. Zitat: „Am Samstag Abend geht ein geduldeter Asylbewerber aus Gambia am Bahnhof mit dem Messer auf einen anderen jungen Mann los...Am Mittwoch hat der Messerangreifer einen Termin mit einer Sozialarbeiterin der Stadt..."

Anstatt die Entscheidung des Datenschutzbeauftragten zu akzeptieren und daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen, macht Palmer also mit diskriminierender und rassistischer Stimmungsmache weiter. Offenbar verspricht er sich selbst nach so einer Rüge, dass aus der Gleichsetzung von Flüchtlingen und Kriminalität und allgemein aus der Skandalisierung des Themas Flüchtlinge politisch Kapital zu schlagen ist. Mit keiner anderen Bevölkerungsgruppe würde sich auch ein Herr Palmer derartiges Verhalten erlauben. Und die Rechnung scheint aufzugehen, denn Beifall gibt es ja genug, nicht nur auf Facebook. All dies ist beschämend für die Stadt Tübingen und das führt auch die von der Stadt geförderten Antidiskriminierungsprojekte ad absurdum.

Mit der "Liste der Auffälligen" haben Palmer und die Stadtverwaltung die ansonsten gute Integrationsarbeit für Geflüchtete durch "Haupt- und Ehrenamtliche" in der Stadt Tübingen nachhaltig diskreditiert. Die städtischen Sozialarbeiter*innen in der Flüchtlingshilfe wurden dabei eher instrumentalisiert als geschützt und letztlich in ihrem professionellen Selbstverständnis mehr als in Frage gestellt. Dass Palmer mit Personen, die vielleicht irgendwie auffällig sind oder auch straffällig geworden sind, primär mit Polizei und ordnungsrechtlichen Maßnahmen umgehen will, zeigt aber auch, wie wenig Ahnung er von Sozialarbeit und deren professionellen Grundsätzen und auch deren nachhaltiger Wirksamkeit hat.

Und last but not least die "Betroffenen"? Hat die jemals irgendjemand über irgendetwas informiert oder nach der Meinung gefragt? Clevere Datenschützer*innen haben nach der Verfügung des Landesdatenschutzbeauftragten eine Vorlage erarbeitet, damit Betroffene eine Anfrage nach DSGVO stellen können und auf diesem Weg zumindest Auskunft erhalten können, ob sie in der Liste der Auffälligen geführt wurden und welche Daten über sie gespeichert waren/sind. Engagierte in der Flüchtlingshilfe werden aufgefordert, potenzielle Betroffene bei der Stellung eines Auskunftsersuchens zu unterstützen.

 

Aktuelle Informationen und Dokumente:

 

Vorlagen zum Auskunftsersuchen:

Informationsblatt (PDF)
Vorlage Auskunftsersuchen (docx)
Vorlage Auskunftsersuchen (odt)

 

Informationen und Dokumente aus 2019

 

Und zum Schluss ein Bonmot wider den tierischen Ernst:

„Ich lehne eine Liste ab, auf der der Oberbürgermeister nicht selbst steht.“

(Markus Vogt, Die Partei, im Verwaltungsausschuss des Tübinger Gemeinderats am 9.5.2019)

 

Autor: Andreas Linder. Stand: 15.10.2020
Kein Anspruch auf Vollständigkeit, Änderungen vorbehalten.

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