Herzhafter Protest gegen die harte Abschiebepolitik der Landesregierung - 4000 Unterschriften für Abschiebestopp nach Afghanistan übergeben
- Presserklärung des Bündnis Bleiberecht Tübingen - Tübingen, 15.03.2015
Bis zu 300 Menschen haben am Mittwochabend in Tübingen friedlich gegen die Flüchtlings- und Abschiebepolitik der baden-württembergischen Landesregierung protestiert. Landesinnenminister Dr. Thomas Strobl, der am selben Abend im Saal der Museumsgesellschaft vor einen Vortrag mit dem leider völlig ironiefreien Thema "Mit Herz und Härte - Grundlagen unserer humanen und konsequenten Flüchtlingspolitik" hielt, wurde mit lautstarkem und buntem Protest vor dem Museum in Empfang genommen.
Bereits zuvor hatten sich bei einer Auftaktkundgebung auf dem Tübinger Holzmarkt Redner_innen aus gesellschaftlichen und politischen Spektren deutlich gegen den harten Kurs der baden-württembergischen Landesregierung in der Flüchtlingspolitik ausgesprochen.
Flüchtlingspolitik nur im Konsens möglich
Prof. Matthias Möhring-Hesse, Inhaber des Lehrstuhls für Sozialethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen ging in seinem Redebeitrag vor allem auf die Bezeichnung "Gesinnungsethiker" ein, mit dem die ehrenamtlich in der Geflüchtetenarbeit engagierten Menschen von Seiten der Abschiebebefürworter auch aus den Reihen der Regierungsparteien zunehmend diffamiert würden. Dieser Begriff sei auch historisch schon ein rein polemischer Kampfbegriff gewesen, der in sachlichen Debatten noch nie etwas Konstruktives beigetragen habe. Möhring-Hesse betonte, dass die Abschiebepolitiker sich durch die Verwendung dieses Begriffes entgegen ihrer mutmaßlichen Absicht eben gerade nicht selbst automatisch als vernünftig und human handelnde Verantwortliche darstellen könnten und betonte, dass eine verantwortliche und humane Flüchtlingspolitik nur im Konsens mit den ehrenamtlich engagierten Flüchtlingshelfern möglich sei.
Werner Hörzer vom Sprecherrat der Flüchtlingsunterstützergruppen sprach stellvertretend für die ca. 2000 ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagierten Menschen, die im Landkreis Tübingen in ca. 40 verschiedenen Unterstützerkreisen organisiert sind. Er betonte, dass durch die aktuellen politischen Vorgaben der Landesregierung und der Kommunen ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Ehrenamtlichen und Behörden hin auf gelungene Integrationsanstrengungen behindert werde. Hörzer kritisierte auch das städtische Konzept der Anschluunterbringung von bereits länger in Deutschland lebenden Geflüchteten. Von diesen würden einerseits intensivere Integrationsbemühungen als zu Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland verlangt, andererseits würden z.B. in der kommunalen Anschlussunterbringung Europastrasse in Tübingen durch das Zusammenpferchen von jeweils zwei wildfremden Personen, die sich ein kleines Zimmer von 10-12m² ohne jegliche Rückzugsmöglichkeiten teilen müssten, diese Integrationsbemühungen strukturell wieder zunichte gemacht.
Geflüchtete
Zwei junge afghanische Geflüchtete betonten, dass es im Moment nirgendwo in Afghanistan sichere Gebiete gebe und alle in dieses Land abgeschobenen Menschen in Lebensgefahr kämen. Sie selbst seien unter großen Gefahren nach Deutschland geflüchtet, um eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben, Sicherheit und Bildung zu haben. Beide gaben ihrer Hoffung Ausdruck, ihre in Deutschland erworbenen Kenntnisse irgendwann auch beim Wiederaufbau ihres von Krieg und Terror zerstörten Herkunftslandes einzubringen, sobald eine Rückkehr dorthin in Würde und Sicherheit möglich sei. Sie erklärten sich solidarisch mit dem politischen Protest gegen die Abschiebepolitik der Regierung und mit allen nach Deutschland geflüchteten Menschen aus Ländern wie den Balkanstaaten, Irak und Syrien, die wie sie selbst ebenfalls akut oder in absehbarer Zukunft von einer Zwangsrückführung in Krieg, Elend und lebensbedrohliche Umstände bedroht seien oder zunehmend massiv zur sogenannten "freiwilligen Ausreise" genötigt würden.
Bereits zu Beginn der Kundgebung hatte Auftaktrednerin Gisela Bleicher-Kehrer vom Friedensplenum Tübingen kritisiert, dass sich das "Abschiebemusterländle" Baden-Württemberg als einziges von Grünen mitregiertes Bundesland jüngst im Bundesrat für eine Einstufung der Maghreb-Staaten, in denen ebenfalls große Teile der Gesellschaft von staatlicher oder sozialer Repression bedroht seien, als sogenannte "sichere Herkunftsländer" ausgesprochen habe. Auch die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel warf der Landesregierung in ihrer kurzen Ansprache eine zynische und menschenverachtende Haltung in der Flüchtlingspolitik vor. Sie kritisierte vor allem auch die Pläne der Bundesregierung, in offensichtlich repressiven und undemokratischen nordafrikanischen Ländern wie Ägypten Lageranstalten für aus Deutschland zwangsabgeschobene Geflüchtete zu etablieren. Henning Zierock von der "Gesellschaft Kultur des Friedens" wies abschließend auf die bestehenden Zusammenhänge zwischen weltweiter Flucht und Vertreibung, Waffenexporten und Militäreinsätzen westlicher Staaten sowie globaler wirtschaftlicher Ausbeutungsprozesse hin.
"Strobl ins Museum - da gehört er hin"
Im Anschluß an die Protestveranstaltung auf dem Holzmarkt zogen Menschen, Geflüchtete und Flüchtlingsunterstützer, nach kurzer Verzögerung durch die Polizei gemeinsam in einem Demonstrationszug vom Holzmarkt zum Lustnauer Tor und versammelten sich dort zu einer bunten, lauten und friedlichen Abschlusskundgebung vor dem Museum, um Innenminister Strobl als Repräsentant der Landesregierung mit Herz, aber ohne Härte, zu empfangen. Eine Fahrspur der Wilhelmstrasse wurde dabei für Rettungsfahrzeuge und Busse freigehalten. Die verkürzten sich die etwas längere Wartezeit auf das Eintreffen von Herrn Dr. Strobl, indem sie immer wieder lautstark ein Bleiberecht für alle Flüchtlinge, ein Ende der Illegalisierung von geflüchteten Menschen und ein Ende der von der Landesregierung forcierten Abschiebungspolitik forderten. Auch die Versuche von Politikern aus den Reihen der Regieriungskoalition, nach rechts abgewanderte Wählergruppen aus wahltaktischen Gründen durch repopulistische Forderungen und immer weitere Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik zurückzugewinnen und dies auf dem Rücken der schutzbedürftigen Menschen auszutragen, die nach Deutschland geflüchtet seien, wurden deutlich und stimmgewaltig kritisiert.
Die zu diesem Zeitpunkt bereits anwesenden geladenen Gäste der Veranstaltung im Museum wurden ebenfalls mit Flugblättern und in Gesprächen über das Anliegen und die Hintergründe des Protestes informiert.
Die vom Bündnis Bleiberecht Tübingen in den letzten Wochen gesammelten 4000 Unterschriften der Petition "Tübinger Aufruf: Keine Abschiebungen nach Afghanistan - gegen Krieg und Terror überall!" wollte der mit deutlicher Verspätung eintreffende Innenminister dann leider nicht in aller Öffentlichkeit entgegennehmen; sie durften ihm aber später von einem Delegierten der Protestierenden im Rahmen der geschlossenen Veranstaltung überreicht werden.
Gelungene Protestaktionen
Das Bündnis Bleiberecht Tübingen, das zu den Protesten aufgerufen hatte, sieht in den von einem breiten Spektrum aus progressiven Kräften, Geflüchteten, ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer_innen und bis weit ins bürgerliche Lager hinein unterstützten Kundgebungen und Aktionen vom Mittwochabend ein deutliches Signal, dass sich immer mehr Menschen weigern, die von der grün-schwarzen Landesregierung politisch forcierte Spaltung in vermeintlich "schlechte" Flüchtlinge, die man abschieben müsse, um Raum für die vermeintlich "guten" Geflüchteten zu schaffen, stillschweigend mitzutragen. Es sei gelungen, Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zu Protesten gegen den aktuellen Kurs der Landesregierung in der Flüchtlingspolitik und für die Menschenrechte von Geflüchteten zu mobilisieren. Viele Menschen seien nicht länger dazu bereit, die aktuell von der Landesregierung praktizierte zynische und menschenverachtende Art der Aufenthaltsbeendigung und Zwangsrückführung schutzsuchender, in die Mitte unserer Gesellschaft geflohener Menschen hinzunehmen. Politisch Verantwortliche wie Thomas Strobl müssten auch in Zukunft damit rechnen, dass sie mit ihrer Politik der Härte gegen Geflüchtete und ihrem offensichtlichen Anbiedern an nationalistische und menschenfeindliche Positionen auf den breiten und direkten Widerspruch einer kritischen Öffentlichkeit jenseits der Bierzelte treffen würden.
Das Bündnis, ein offener Zusammenschluss von einzelnen Menschen und verschiedenen Gruppen, die sich gemeinsam für ein Bleiberecht aller Geflüchteter und gegen Abschiebungen in Krieg, Terror und Elend einsetzen, rief dazu auf, sich auch zukünftig an weiteren Aktionen gegen die Aufenthaltsbeendigungspolitik der Landesregierung und zu konkreter, praktischer Solidarität für alle von bedrohten Mitmenschen zu beteiligen.
- 16.03.2017 Schwäbisches Tagblatt: Demonstranten zeigen ihren Ärger über das Abschiebemusterländle (PDF)
- 16.03.2017 Reutlinger Generalanzeiger:
Dokumentation:
- 10.03.2017 Bündnis Bleiberecht Tübingen:„Mit Herz gegen Härte“ - Bündnis Bleiberecht ruft zu Kundgebung und Protestaktion gegen Abschiebungspolitik auf (PDF)
- Aufruf "Mit Herz gegen Härte" (PDF)
- Mehrsprachiger Flyer (PDF)
- Online-Petition "Keine Abschiebungen nach Afghanistan - gegen Krieg und Terror überall (abgelaufen 13.3.17)
- 26.04.2017: Antwort des Innenministeriums BW auf die Petition "Keine Abschiebungen nach Afghanistan..." (PDF)
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