Gerichtsurteil: Aufnahmezusagen verpflichten zur Visumserteilung

Pressemitteilung 9.7.2025

Am gestrigen 8. Juli hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren festgestellt, dass im Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) gegebene Aufnahmezusagen rechtsverbindlich sind und die Bundesregierung Visa zur Einreise nach Deutschland erteilen muss. "Die Bundesregierung unter Friedrich Merz muss jetzt ihre Verantwortung übernehmen und ihre Blockadehaltung gegenüber dem BAP und Menschenrechtler:innen aus Afghanistan aufgeben" sagte Andreas Linder, Geschäftsführer von move on - menschen.rechte Tübingen e.V.

Der Verein war eine von 70 zivilgesellschaftlichen Meldestellen im BAP. Noch rund 2.400 Menschen, die aufgrund ihrer Aktivitäten und individueller Gefährdung im BAP, dem Ortskräfteverfahren und der Menschenrechtsliste eine Aufnahmezusage erhalten hatten, warten zum Teil seit vielen Monaten auf die Erteilung des Visums und die rettende Einreise nach Deutschland. Unter diesen Menschen sind auch acht Fälle, insgesamt 38 Menschen, für die der Verein move on erfolgreich Aufnahmeanträge gestellt hatte.

Die Ampelregierung hatte Ende April die Aufnahmeflüge aus Pakistan eingestellt und der neuen Regierung das Weitere überlassen. Diese hatte im Koalitionsvertrag angekündigt, alle sogenannten freiwilligen Aufnahmeprogramme "soweit wie möglich" zu beenden. Als eine seiner ersten Amtshandlungen zog der neue Innenminister Dobrindt (CSU) das Sicherheitspersonal ab und erklärte die weitere Aufnahme von Afghan:innen für ausgesetzt.

Die Betroffenen, die aufgrund der unsicheren Umstände in Pakistan sogar von Abschiebung nach Afghanistan bedroht sind, sahen sich gegenüber der neuen Bundesregierung zum Rechtsweg gezwungen. Nachdem bereits Anfang Mai eine erste Klage zur Einhaltung der Aufnahmezusage an das Verwaltungsgericht Berlin gestellt wurde, reichten mehrere Anwält:innen in Zusammenarbeit mit der Organisation Kabulluftbrücke am Weltflüchtlingstag 20. Juni 2025 weitere 25 Klagen ein. Weitere Klagen werden am 10. Juli an das Verwaltungsgericht Berlin, darunter auch die Fälle von move on.

Zu diesen Kläger:innen gehören
- die Familie einer Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin, die Verwandte im Raum Stuttgart hat
- eine junge Anwältin mit Ehemann und Kind, die in Afghanistan bis zur Machtübernahme der Taliban vor allem Frauen in Fällen von sexualisierter Gewalt verteidigte und gegen Straftäter vorging
- ein ehemaliger Gouverneur einer Provinz und führendes Mitglied einer sozialdemokratischen Partei mit Familie
- mehrere Bildungs- und Frauenrechtsaktivistinnen und Sozialarbeiterinnen mit Angehörigen
- ein Leiter eines Fernsehsenders, dessen Ehefrau ebenfalls Journalistin war, mit Familie
"Diese Menschen dürfen nicht im Stich gelassen und nicht den Taliban ausgeliefert werden. Anstatt die Taliban anzuerkennen wie Russland oder wie Dobrindt zwecks Abschiebungen auf Kuschelkurs zu gehen, muss wieder Politik mit Anstand und auf der Grundlage der Menschenrechte betrieben werden" sagt Andreas Linder.

Ebenfalls am heutigen Tag veröffentlichte die Organisation PRO ASYL gemeinsam mit dem Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte ein umfangreiches Rechtsgutachten, in dem herausgearbeitet wird, dass sich die Bundesregierung wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar macht, wenn sie gefährdete Afghan*innen im Stich lässt, denn im Fall einer Abschiebung nach Afghanistan drohen schwerste Menschenrechtsverletzungen – von Folter und Misshandlungen bis zu sexualisierter Gewalt und Tötungen.

Dass die Einhaltung der Aufnahmezusagen ein Gebot der Stunde ist, zeigt auch die weitere Meldung vom gestrigen Tag, dass der Internationale Strafgerichtshof ICC (Den Haag) einen internationalen Strafbefehl gegen die Talibanführer Haibatullah Akhundzada und Abdul Hakim Haqqani ausgestellt hat, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit insbesondere gegenüber Frauen und Mädchen. Gleichzeitig verabschiedete die Generalversammlung der UNO in New York eine Resolution, in der die islamistischen Taliban aufgerufen werden, die systematische Unterdrückung und Ausgrenzung der weiblichen Bevölkerung zu beenden. Nur wenige Staaten stimmten gegen diese Resolution (USA, Israel, Russland, China, Indien, Iran).

"Was braucht es noch", fragt Andreas Linder abschließend, "um zu einer Politik der Menschlichkeit und der Menschenrechte zurückzukehren?"

"For me, the possible cancellation of the Federal Admission Program (BAP) would be nothing short of a death sentence. I have no way of returning to Afghanistan, and this journey is a one-way road for me. Für mich käme ein möglicher Abbruch des Bundesaufnahmeprogramms (BAP) einem Todesurteil gleich. Ich habe keine Möglichkeit, nach Afghanistan zurückzukehren, und diese Reise ist für mich eine Einbahnstraße.“ (Herr Z., Kameramann und Co-Leiter eines internationalen Fernsehsenders, nach Machtübernahme durch die Taliban mehrfach gekidnappt und schwer misshandelt)." (Herr Z., Kameramann und Co-Leiter eines internationalen Fernsehsenders, nach Machtübernahme durch die Taliban mehrfach gekidnappt und schwer misshandelt).


Kontakt: Andreas Linder, info@menschen-rechte-tue.org

Hinweise:

11.07.2025 Schwäbisches Tagblatt Tübingen: Tübinger Menschenrechtsverein: Klagen für die Aufnahme. Der Verein Move On hat Aufnahmeanträge für Afghanen gestellt und hofft, dass das Verwaltungsgericht Berlin die bereits gemachten Aufnahmezusagen einfordert

08.07.2025 Verwaltungsgericht Berlin Pressemitteilung: Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan: Aufnahmezusagen verpflichten zur Visumserteilung (Nr. 34/2025)
https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/2025/pressemitteilung.1578126.php

08.07.2025 PRO ASYL Pressemitteilung: Rechtsgutachten zeigt: Bundesregierung macht sich strafbar, wenn sie gefährdete Afghan*innen im Stich lässt
https://www.proasyl.de/pressemitteilung/rechtsgutachten-zeigt-bundesregierung-macht-sich-strafbar-wenn-sie-gefaehrdete-afghaninnen-im-stich-laesst/

08.07.2025 (lto) Die wirk­same Zusage verpf­lichtet zur Visum­ser­tei­lung
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vg8l29025v-vg-berlin-bundesaufnahmeprogramm-afghanistan-visa

08.07.2025 Internationaler Strafgerichtshof Pressemitteilung: Situation in Afghanistan: ICC Pre-Trial Chamber II issues arrest warrants for Haibatullah Akhundzada and Abdul Hakim Haqqani
https://www.icc-cpi.int/news/situation-afghanistan-icc-pre-trial-chamber-ii-issues-arrest-warrants-haibatullah-akhundzada?fbclid=IwQ0xDSwLaSHNleHRuA2FlbQIxMQABHoCo7-DSnqcQRFm1L6Ar7g42_GfN2UTbcXdGEsOv1kN8iRKk1ojuEqrgtf44_aem_PlbFHCWP78isi56tcw-l9Q

08.07.2025 Deutschlandfunk: Gegen US-Widerstand: UNO-Generalversammlung nimmt Resolution zu Afghanistan an
https://www.deutschlandfunk.de/uno-generalversammlung-nimmt-resolution-zu-afghanistan-an-100.html

20.06.2025 Südwest Presse: Angst um Familie in Pakistan: Stuttgarterin: „Ein Teil meines Herzens ist bei meinen Eltern“ Sie sollten längst in Deutschland sein. Doch noch immer sitzen die Angehörigen von Morssal Omari in Pakistan fest. Ein Tübinger Verein versucht zu helfen. (Vorsicht Bezahlschranke)

6.6.2025 Taz: Aufnahmeprogramm für AfghanInnen. Verwirrung um Aufnahmezusagen. Außenminister Wadephul redet von Rechtsverbindlichkeit, ganz anders seine CDU-Kollegen. 2.500 Af­gha­n*in­nen warten in Pakistan auf die Einreiseerlaubnis.

12.05.2025, tagesschau.de: Afghanin verklagt Auswärtiges Amt

15.05.2025: tagesschau.de: Aufnahme afghanischer Flüchtlinge. Ehemaliger Fallbearbeiter empört über Bundesregierung

15.05.2025: ARD / NDR Panorama: "Illegale Migration": Warum dürfen "Legale" nicht kommen?

12.04.2025 SWR Baden-Württemberg: Nach langem Warten endlich in Sicherheit. Flucht vor den Taliban: Wie vier Afghaninnen nach Deutschland kamen

25.03.2025 Gemeinsamer Appell von 44 Organisationen "Menschenrechte verteidigen – schutzbedürftige Menschen aus Afghanistan weiter aufnehmen!" (Link zu PRO ASYL)

 


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