Afghanistan: Sammelabschiebung (nur) verschoben - Abschiebemoratorium jetzt!

Angeblich aus Sicherheitsgründen sagte das Bundes-Innenministerium die für 4.5. geplante erneute Sammelabschiebung nach Afghanistan ab. Laut einer Sprecherin sei die Abschiebung aufgrund des Beginns des internationalen Truppenabzugs zu gefährlich für das polizeiliche Begleitpersonal.

Pro Asyl, die Flüchtlingsräte und andere Organisationen fordern indes in einer aktuellen Presseerklärung, die Abschiebungen nach Afghanistan endgültig vollständig einzustellen. Sowohl wegen der durch die Corona-Pandemie ausgelösten massiven Verschlechterung der eh schon katastrophalen humanitären Lage als auch wegen der bereits eingesetzten und weiter zu erwartenden Verschärfung der Sicherheitslage durch den Truppenabzug und die damit einhergehende weitere Machtübernahme durch die Taliban seien Abschiebungen unverantwortlicher denn je. Statt einer Verschiebung des Abschiebungstermins, wie vom Innenministerium geplant, wird von den Menschenrechts- und Flüchtlingshilfeorganisationen die Festlegung auf einen rechtlichen Abschiebungsstopp gefordert.

 

Sicherheitslage in Afghanistan – Zunahme der Gewalt und weitere „Talibanisierung“

In Afghanistan ist seit 40 Jahren Krieg. Laut Global Peace Index wird Afghanistan in den letzten drei Jahren wieder als das gefährlichste und tödlichste Land der Welt geführt. Auch im „Global Terrorism Index“ ist Afghanistan das schlimmste Land.

Seit den sogenannten Friedensgesprächen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung in Doha im vergangenen Herbst hat die Gewalt in Afghanistan nicht nachgelassen, sondern wieder stark zugenommen. Im neuen Vierteljahresbericht der UNAMA vom 14. April 2021 wird berichtet, dass die Zahl der in Afghanistan durch den kriegerischen Konflikt verletzten oder getöteten Zivilist*innen im Vergleich zum Vorjahr um 29 Prozent zugenommen hat („...significantly higher…“) Seit Oktober 2020, also nach Beginn dieser „Friedensgespräche“, hat die Gewalt sogar um 38 Prozent zugenommen. Thomas Ruttig, Co-Direktor des Afghan Analysts Network, befürchtet aufgrund des US- und NATO-Truppenabzugs eine massive Verschärfung der Sicherheitslage und negative Folgen für Freiheits- und Frauenrechte. Seit der Ankündigung des Truppenabzugs durch US-Präsident Biden haben die Taliban ihre weitere Teilnahme an den Friedensgesprächen abgesagt und ihre militärischen Angriffe überall im Land verstärkt, mit dem Ziel, weiteres Territorium unter ihre Kontrolle zu bringen, und mit Hunderten von Toten.

If levels of violence are not immediately reduced, thousands of Afghan civilians will continue to be killed and injured by fellow Afghans in 2021“ ( Deborah Lyons, UN-Beauftragte für Afghanistan, 14.4.21)

 

Humanitäre Lage in Afghanistan – Verschärfung durch die Corona-Pandemie:

Etwa jede*r zehnte afghanische Staatsbürger*in ist ein Flüchtling, die meisten davon leben in prekären Verhältnissen im Iran und in Pakistan. Über eine halbe Millionen dieser Flüchtlinge wurden in den letzten Jahren laut UNHCR aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgeschoben. Hinzu kommen zigtausende Binnenvertriebene. Krieg, Terror und Vertreibung haben in Afghanistan auch zu einer immer schlimmer werdenden humanitären Situation geführt. Laut dem UN-Büro für humanitäre Hilfe UN OCHA waren in 2020 9,4 der 38 Mio. Menschen in Afghanistan auf humanitäre Hilfe angewiesen (2019 6,3 Mio) – Tendenz weiter steigend. Millionen Menschen haben keinen Zugang zu Wasser und medizinischer Versorgung. Afghanistan ist das Land mit der höchsten Kindersterblichkeit der Welt. Hundertausende Kinder sind mangelernährt. Und jetzt kommt noch die Corona-Pandemie dazu. Laut Hochrechnungen des afghanischen Gesundheitsministeriums sind ca. ein Drittel aller Menschen betroffen. Etwa 2 Mio. Afghan*innen haben wegen Corona ihre Jobs verloren. Im Human Development Index ist Afghanistan weiterhin auf dem fünft letzten Platz aller Länder dieser Welt gelistet. Anfang dieser Woche berichtete das UN-Welternährungsprogramm (WFP), dass sich jede*r dritte Einwohner*in Afghanistans nicht ausreichend ernähren könne. Als Gründe wurden der Krieg, ein sprunghafter Anstieg der Nahrungspreise, die Arbeitslosigkeit, eine beginnende Dürre sowie letztlich die Pandemie genannt.

Truppenabzug und Corona-Pandemie: Abschiebestopp und Neubewertung der Situation von afghanischen Flüchtlingen in Deutschland nötig: Konträr zur Fakten- und Gefahrenlage lehnt das BAMF die meisten von afghanischen Geflüchteten gestellten Asylanträge ab. Der Anteil der Zuerteilungen von Flüchtlingsschutz ist seit 2015 stark zurückgegangen, obwohl sich weder die Situation in Afghanistan noch die Motive der Geflüchteten entsprechend verändert haben. Bei der Einschätzung der Gefahrenlage kommt das BAMF regelmäßig zu dem Schluss, dass für die Betreffenden „keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines ernsthaften Schadens“ bestehe. Ein humanitäres Abschiebungsverbot wird häufig bei Familien erteilt, jedoch nicht bei alleinreisenden erwachsenen Männern (die die große Mehrheit der Asylanträge ausmachen), bei denen unterstellt wird, dass sie nach Afghanistan zurückkehren und sich dort selbst versorgen können. Laut Pro Asyl wurden von den zuständigen Gerichten im Jahr 2020 rd. 60 % aller Klagen gegen die Ablehnung von Asylanträgen aufgehoben (2019 rd. 47%). Dies lässt die Einschätzung zu, dass das BAMF in der Mehrzahl der Fälle zu Unrecht ablehnt und hinter der Ablehnung migrationspolitische Motive stehen. Die Gerichte verpflichten in den meisten Fällen zumindest zur Zuerteilung eines Abschiebungsverbots.

Bei „jungen, gesunden arbeitsfähigen Männern“ folgten viele Gerichte vor Beginn der Corona-Pandemie jedoch noch dem Grundsatz, dass diese in der Lage seien, in Afghanistan ihre Existenz zu sichern und keine „extreme Gefahrenlage“ im Sinne des Art. 3 der EMRK vorliegt, die die Zuerteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz rechtfertigt. Inzwischen hat sich aus Sicht zahlreicher Verwaltungsgerichte die humanitäre Lage in Afghanistan aufgrund der Corona-Pandemie aber derart verschlechtert, dass auch bei dieser Personengruppe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen ist. Bereits im Sommer 2020 wurden derartige Entscheidungen getroffen. In seinem Urteil vom 17.12.2020 (A 11 S 2042/20) erkennt der VGH Baden-Württemberg an, dass es aufgrund der zusätzlich wegen der Corona-Pandemie gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan auch für junge, gesunde Rückkehrer derzeit nur möglich sei, ein Existenzminimum zu erwirtschaften, wenn begünstigende Umstände vorliegen: „Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt ...[A]llein die körperliche Leistungsfähigkeit des Klägers und seine in Ausübung verschiedener Tätigkeiten erworbenen fachlichen Kompetenzen [würden] ihn derzeit nicht davor bewahren, im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Kürze zu verelenden. …“.

Durch die neue Lageeinschätzung durch Gerichte aufgrund der Corona-Pandemie entsteht die Chance für viele afghanische Geflüchtete, deren Asylanträge abgelehnt wurden und die im unangemessenen Duldungsstatus leben müssen, einen Asylfolgeantrag zu stellen.

Aufgrund der mit dem beginnenden Truppenabzug einhergehenden weiteren Zunahme von Gewalt und kriegerischen Handlungen in Afghanistan fordert PRO ASYL darüber hinaus und ganz aktuell „eine sofortige Neubewertung der Verfolgungssituation durch das Auswärtige Amt und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). „Bereits früher und jetzt erst Recht ist die Argumentation des BAMF, es gäbe dort sichere Gebiete, in die Verfolgte gehen könnten, wie eine Fata Morgana, die sich in Luft auflöst. Kein Oppositioneller ist dort sicher. Das BAMF muss umgehend seine Entscheidungspraxis ändern. Wer verfolgt ist braucht Schutz und darf nicht mehr mit der irrealen Argumentationsfigur, es gäbe sichere Gebiete, abgelehnt werden.“

 

Quellen / weitere Informationen:

14.4.21 Thomas Ruttig in: Die Tageszeitung: Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan: Die Taliban übernehmen die Regie. Die USA wollen bald all ihre Truppen aus Afghanistan abziehen. Und die Taliban sagen für eine geplante Friedenskonferenz ab. Was heißt das für die Zukunft des Landes?

14.4.21 UNAMA: Need for violence to end in order to stop thousands of Afghan civilians being killed and injured in 2021 - UN Report

14.4.21 UNAMA: Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. First quarter update: 1 January to 31 March 2021

15.4.21 PRO ASYL: Innenpolitische Folgen des Afghanistanabzugs: PRO ASYL fordert Abschiebestopp und Neubewertung der Lage von Geflüchteten

20.4.21 Thomas Ruttig: US-Truppenabzug und Taleban-Absage an Friedenskonferenz (DLF 15.4., SRF 16.4., Zeit 17.4.)

1.5.21 Afghan Analysts Network: As US troops withdraw, what next for war and peace in Afghanistan?

3.5.21 NTV: Angespannte Sicherheitslage. Abschiebung nach Afghanistan verschoben

4.5.21 Flüchtlingsrat Bayern: Afghanistan-Abschiebung verschoben: Jetzt politische Konsequenzen ziehen! Gemeinsame Pressemitteilung des Bayerischen Flüchtlingsrats, der Flüchtlingsräte und Pro Asyl, 04.05.2021

4.5.21 Süddeutsche Zeitung: Afghanistan: Mörderische Attacken

 

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020, A 11 S 2042/20-

4.3.21 PRO ASYL: Jetzt Abschiebungsverbote für afghanische Geflüchtete prüfen!

15.3.21 Plan.B Infoblatt: Jetzt Abschiebungsverbote für afghanische Geflüchtete mit Duldung beantragen? (PDF)

 

Autor: Andreas Linder. Kontakt: info@menschen-rechte-tue.org

Zurück